„Die nächsten 20 Jahre werden so aufregend wie die letzten 20 Jahre“
© Susanna Fischerauer

„Die nächsten 20 Jahre werden so aufregend wie die letzten 20 Jahre“

26. Juni 2020 | von Thorsten Naeser

Dr. Shubhadeep Biswas hat mit seinen Kollegen in der Forschungsgruppe von Prof. Matthias Kling im Labor für Attosekundenphysik seinen ersten Artikel im renommierten Wissenschaftsmagazin Nature Physics veröffentlicht. Wir haben mit ihm über seine Forschung, seine Karriere und seine Pläne für die Zukunft gesprochen.

Kannst Du uns beschreiben, worum es in Deiner Arbeit in Nature Physics ging?

Wir wollten die innere Landschaft eines Moleküls visualisieren. Es ist schon immer eine wichtige Frage gewesen, wie Moleküle miteinander interagieren oder auf eine externe Störung, wie etwa Licht, reagieren. Und zudem will man wissen, ob diese Reaktionen manipuliert werden können. Um das herauszufinden, muss man die innere Umgebung des Moleküls verstehen. Beispielsweise ist für eine typische organische Reaktion die Rolle der funktionellen Gruppen wie Kohlenwasserstoff sehr wichtig. Diese bestimmen das Ergebnis der Reaktion. Vereinfacht dargestellt, geschieht diese Reaktion aufgrund der elektrostatischen Wechselwirkungen innerhalb des Moleküls. Daher läuft das gesamte Problem darauf hinaus, dass wir die elektrostatische Potentiallandschaft des Moleküls verstehen müssen, um Kenntnisse über eine chemische Reaktion und ihre Kontrolle zu erlangen.

Gab es Schwierigkeiten bei den Messungen?

Im Falle eines Moleküls ist die Untersuchung der potenziellen Landschaft nicht so einfach, da sie, im Gegensatz zu einem Atom, eine wirklich komplizierte anisotrope Struktur und eine Überlagerung einer großen Anzahl von Quantenzuständen aufweist. Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler das durch Elektronenemissionsmessungen im Energie- (oder Impuls-) Bereich zu verstehen. In den meisten Fällen trat die Schwierigkeit jedoch aufgrund der Valenzstruktur der untersuchten Elektronen auf, für die eine Positionsbestimmung innerhalb des Moleküls nicht möglich ist. Wir haben versucht, dieses Problem im Zeitbereich mit einem einfachen Konzept anzugehen: Wenn man innerhalb des Moleküls gezielt ein Elektron injiziert oder erzeugt, kennt man dessen Geburtsort. Beeinflusst von der molekularen Umgebung kann das Elektron dann in der molekularen Landschaft herumlaufen und den Einfluss des elektrostatischen Potentials aufnehmen, bevor es im Experiment mit einer charakteristischen Zeitverzögerung gemessen wird.

Kannst Du uns eine Analogie zum besseren Verständnis geben?

Die Situation ist dem Verkehr in Großstädten sehr ähnlich: Wenn man in der Stadt unterwegs ist und viel Verkehr herrscht, kommt man leicht zu spät zu seinem Ziel. In der vorliegenden Arbeit haben wir durch Photoionisierung ein Elektron aus einer Kernhülle eines Iodatoms erzeugt, das Teil eines Moleküls namens Ethyliodid ist. Als Kernschalenelektron wird es kaum von der molekularen Umgebung beeinflusst, obwohl es Teil des Moleküls ist. Dann, nach der Erzeugung, durchquert es den Rest der molekularen Umgebung und wird von dieser beeinflusst, bevor es schließlich gemessen wird. Mittels Attosekunden-Spektroskopie konnten wir eine Zeitverzögerung der Elektronenemission aufgrund dieses molekularen Einflusses messen.

Welche Perspektive bieten diese Ergebnisse?

Unsere Erkenntnisse zeigen eine neue Sichtweise auf das große Problem. Mit unserer Technik zur winkelaufgelösten Elektronendetektion könnte man das große Ziel erreichen, die gesamte molekulare Potentiallandschaft eines Moleküls in drei Dimensionen abzubilden. Das wäre ein großer Fortschritt auf dem Gebiet der Molekularphysik als auch in der Chemie.

Es war Deine erste Veröffentlichung in Nature. Wie fühlt es sich an?

Ich fühle mich privilegiert, Teil eines solchen großen Projekts und einer wunderbaren Zusammenarbeit zu sein, an der eine große Anzahl prominenter Akteure auf dem Gebiet der Attosekundenphysik beteiligt waren. Für mich persönlich war der aufregendste Teil das Lernen während der gesamten Reise dieser Veröffentlichung. Und natürlich sind wir alle froh, dass das Potenzial unserer Erkenntnisse von einer hochrangigen wissenschaftlichen Zeitschrift erkannt worden ist.

Du kommst aus Indien. Kannst Du uns erzählen, wo Du geboren bist und wo Du zur Schule und Unigegangen bist?

Ja, ich bin aus Indien. Ich bin in einem kleinen Ort namens Tehatta aufgewachsen. Er befindet sich in einem der östlichen Bundesstaaten Indiens, Westbengalen. Meine gesamte Schulzeit war dort, hauptsächlich in der Tehatta High School. Für meinen Bachelor-Abschluss in Physik habe ich mich an einem College namens Ramakrishna Mission Vidyamandira in Belur, das zur Universität von Kalkutta gehört, eingeschrieben. Dort bekam ich den ersten wirklichen Eindruck von Physik. Mein Kindheitsinteresse verlagerte sich von der Mathematik zur Physik.

Dieses Interesse scheint geblieben zu sein?

Ja, ist es. Ende 2010 zog ich nach Mumbai, um am Tata Institute of Fundamental Research zu promovieren. Dort arbeitete ich auf dem Gebiet der atomar-molekularen Physik, aber mit Beschleunigern, nicht mit Lasern. Im Laufe der Zeit entwickelte ich jedoch ein Interesse an zeitaufgelöster Physik. Ich wollte sehen, wie sich Elektronen in Molekülen bewegen oder wie eine molekulare Fragmentierung in Echtzeit geschieht. Anfangs hatte ich keine Ahnung, wie ich den Traum von der Arbeit in zeitaufgelöster Physik verwirklichen kann. Ich konnte mir dafür keinen besseren Ort vorstellen als das Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und die Ludwig-Maximilians-Universität München. So schloss ich mich 2017 der Forschungsgruppe von Prof. Matthias Kling in der Abteilung von Prof. Ferenc Krausz an, die oft als Geburtsort der Attosekundenphysik angesehen wird. Die aufregende neue Reise war nur möglich mit der großzügigen Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Europäischen Union im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie-COFUND-Aktion. Dafür möchte ich mich hier herzlich bedanken.

Was fasziniert Dich am meisten an Lichttechnologien?

Die heutige Lichttechnologie, insbesondere der Laser, hat viele Facetten. Ich interessiere mich für zeitaufgelöste Physik und bin immer fasziniert von ultraschneller Lasertechnologie. Sie hat es uns ermöglicht, einzelne Lichtblitze mit einer Länge von weniger als 100 Attosekunden zu erzeugen. Wie lang ist eine Attosekunde? Es ist ein Milliardstel einer Milliardstel Sekunde. Wenn ich das vergleiche, entspricht dies der Relation von einer Sekunde zu dem Alter unseres Universums. Diese Zahlen selbst sind spektakulär. Für Wissenschaftler sind diese Zahlen noch faszinierender, da die Attosekunden Zeitskala der schnellsten Bewegung von Elektronen entspricht. Im Wesentlichen können wir Bilder eines Ereignisses aufnehmen, das in der nur Attosekunden dauert, z.B. die Umlaufzeit von Elektronen im Wasserstoffatom um das Proton. Tatsächlich konnten wir in der vorliegenden Arbeit Zeitintervalle von etwa 10 bis 50 Attosekunden messen.

Du stehst am Anfang Deiner Karriere als Wissenschaftler. Wo siehst Du Dich in 20 Jahren?

Ich möchte als Wissenschaftler weiter forschen. Ich würde aber auch gerne einen Beitrag zur technologischen Entwicklung leisten, die mit der Grundlagenforschung einhergeht. Ich würde gerne in Zukunft eine eigene Forschungsgruppe leiten, die sich hauptsächlich mit ultraschnellen physikalischen Aspekten in atomaren, molekularen und neuartigen Systemen der kondensierten Materie befasst.

Und wie sehen künftig die Lichttechnologien aus?

Die Lichttechnologie entwickelt sich sehr schnell. Laser, die wir in den nächsten 20 Jahren einsetzen, werden sehr kompakt sein. Sie werden ultrakurze Pulse im mittleren Infrarotbereich mit beträchtlicher Energie für viele Anwendungen erzeugen. Das ermöglicht es uns, die derzeitige Attosekundenphysik auf den Röntgenbereich auszudehnen, um die Dynamik der Atomkernschale, die nichtlineare Röntgenphysik, oder sogar die Durchführung von Anrege-Abfrage Experimenten zu realisieren. Da wir in der Lage sind, die Zeitskala elektronengetriebener Phänomene zu erreichen, würde die Anwendung dieser neuen Lasertechnologien die Chancen erhöhen, neue Physik insbesondere in Systemen kondensierter Materie aufzudecken. Neben den Lasern gibt es eine weitere neue Art von Lichtquelle, nämlich Freie-Elektronen-Laser, wie sie derzeit bei LCLS am SLAC in Kalifornien in Betrieb sind. Dies wird neue Möglichkeiten bieten, die Physik zu untersuchen, die derzeit experimentell nicht erreichbar ist. Daher wage ich vorherzusagen, dass die nächsten 20 Jahre in Bezug auf die Lichttechnologien und ihrer Anwendungen genauso spannend sein werden wie die letzten 20 Jahre.

Originalpublikation:

Shubhadeep Biswas et al.:
Probing molecular environment through photoemission delays
Nature Physics 11. Mai 2020
DOI 10.1038/s41567-020-0887-8