Können Pferde schweben?
Muybridges innovative Aufnahmen, die 1878 in dem Band “The Horse in Motion“ publiziert wurden, gerieten zu einer Sensation und begründeten die Chronofotografie. | © Fotos: Thorsten Naeser

Können Pferde schweben?

Chronofotografie und Attosekundenphysik

5. Februar 2021 | von Dr. Veit Ziegelmaier

Was haben Laser mit Kameras und Elektronen mit Pferden gemeinsam? Vordergründig nicht allzu viel. Und dennoch verbirgt sich hinter dieser Frage die trickreiche Lösung eines Problems: Wie lassen sich Bewegungsabläufe mit hohen Geschwindigkeiten, die für das bloße Auge nicht mehr fassbar sind, detektieren?

Im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhundert war es einst eine hoch dotierte Wette, deren experimentelle Bestätigung für Gewissheit in der Streitfrage sorgen sollte, ob es beim Bewegungsablauf des Pferdes eine Flugphase gibt, in der das Tier alle Beine vom Boden hebt. Leland Stanford, Politiker, Unternehmer und Gründer der nach ihm benannten Stanford Universität in Kalifornien, befürwortete diese These. Er engagierte 1872 mit Eadweard Muybridge einen Pionier des noch neuen Mediums der Fotografie, um den Beweis zu erbringen.

Eadweard Muybridge (1830-1904) war ein Pionier des noch neuen Mediums der Fotografie.

Doch mit der rudimentären und gleichzeitig aufwendigen Kameratechnik waren keine kurzen Verschlusszeiten möglich, so dass die ersten Aufnahmen lediglich einen unscharfen Schatten des mit hoher Geschwindigkeit vorbeihuschenden Pferdes erkennen ließen. Angestachelt von der Aufgabenstellung optimierte Muybridge seine Methoden bis er den Nachweis einer Flugphase des Pferdes tatsächlich erbringen konnte, bei der sich alle vier Hufe dicht beieinander unterhalb des Pferderumpfes befinden. Damit strafte er die Fantasie der Maler Lügen, in deren Bildern Pferde bislang zwar zu schweben scheinen, jedoch mit allen vier Beinen weit von sich gestreckt.

Muybridges Teststrecke auf der kalifornischen Paolo Alto Ranch.

1877 weitete er im Auftrag Stanfords seine Dokumentationen aus. Auf der kalifornischen Paolo Alto Ranch baute er sich eine Teststrecke mit dem Ziel den gesamten Bewegungsablauf eines Pferdes im Lauf fotografischen Serienaufnahmen festzuhalten. Quer über das Feld der Rennstrecke spannte er Schnüre, die durch den Lauf des Pferdes durchtrennt wurden und so in regelmäßigen Abständen insgesamt 12 Kameras nach und nach per Fernauslöser betätigten und die einzelnen Bewegungsphasen im Trab, Schritt, Galopp und Sprung eindrucksvoll vor einer weißen Wand dokumentierten. Muybridges innovative Aufnahmen, die von Stanford in dem Band “The Horse in Motion“ publiziert wurden, gerieten zu einer Sensation und begründeten die Chronofotografie.

Muybridges serielle Fotografien von Bewegungstudien waren maßgeblich für die spätere Entwicklung des Films.

Muybridge entwickelte seine Technik beständig weiter und veröffentlichte im Rahmen eines Forschungsauftrags zahlreiche berühmt gewordene serielle Bewegungsstudien von Tieren, Athleten sowie Männer und Frauen in Alltagssituationen vor einem nüchtern gerasterten Hintergrund und leistete damit eine unschätzbare Pionierarbeit für nachkommende Entwicklungen wie bspw. das Medium Film.

Mit der heutigen Kamera- und Übertragungstechnik sind wir es mittlerweile etwa von Videobeweisen im Sport gewöhnt, präzise Einzelaufnahmen von Bewegungssequenzen in Echtzeit zu erhalten wie auch sportliche Leistungen in Wettbewerben im Hundertstel- und Tausendstel-Sekundenbereich zu messen.

Doch im subatomaren Bereich, der Welt der Elektronen, gehen Bewegungsabläufe noch sehr viel rasanter vonstatten, so dass die physikalische Grundlagenforschung diese kurzen Zeiträume lange Zeit nicht detektieren konnte. Wie einst Muybridge mussten Ultrakurzzeitforscher sich Methoden überlegen und entsprechend aufwendige technische Apparaturen entwickeln, um auch hier erfolgreich zu sein. Mithilfe der sogenannten Attosekundenphysik, die sich vom dänischen Wort „atten“ für die Zahl 18 ableitet und damit ein Zeitintervall von 10-18 Sekunden bezeichnet, gelang im Jahr 2001 erstmalig die Beobachtung von Elektronenbewegungen in Echtzeit.

Vergleichbar den Serienbildern einer Kamera mit kurzen Belichtungszeiten sorgten gesteuerte, aufeinander abgestimmte Ultrakurzzeitlaserpulse, die nur eine Trillionstel-Sekunde andauern, für den erfolgreichen Nachweis. Dafür gab es im Jahr 2008 sogar einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde für die bislang kürzesten gemessenen Lichtblitze mit einer Dauer von nur 80 Attosekunden. Heute ist dieser Rekord bereits wieder gebrochen, was beweist, dass auch die Forschung wie Pferde und Elektronen immer in Bewegung ist.